Traumhaft aber schwer
Nach dem ich in diesem Jahr bereits die Retroronde in Oudenaarde, Belgien, die Velo Vintage Anjou in Saumur, Frankreich, die Eroica Limburg in Valkenburg, Niederlande und die Velo Classico Germany in Ludwigslust gefahren bin, ging es jetzt zum Saisonhöhepunkt nach Gaiole in der Toskana zur Eroica.
Diesmal bin ich mit dem Auto zu meiner sechsten Teilnahme über die Alpen in die Toskana angereist. Nach dem mir im letzten Jahr mein Pinarello Asolo bei der Ankunft auf dem Flughafen Florenz abhandengekommen ist und mir erst nach vier Tagen leicht lädiert zurückgebracht wurde.
Gewohnt habe ich bei Freunden in der Nähe von Greve in Chianti was ca. 30 Kilometer vom Startort in Gaiole entfernt liegt.
Dabei hatte ich diesmal mein rotes Stahlrad der Marke Pinarello Motello.
So konnte ich im Vorfeld der Veranstaltung unbeschwert noch ein paar Touren durch das Chiantigebiet machen. Radfahren im Chianti stellt man sich im Allgemeinen lieblich und genussvoll vor, aber die Straßen und Wege abseits der Landstraßen haben es auf Grund ihrer Steigungen,10 % gelten hier noch als Erholung, und des Untergrundes in sich.
Zwei Tage vorher ging es mit dem Rad zum 30 Kilometer entfernten Startort Gaiole zur Anmeldung. Die frühe Anreise am Freitag hatte sich gelohnt, denn der Radteileflohmarkt war noch nicht von so vielen Interessierten besucht. Für Vintageradsammler ein Eldorado. Teile, Teile, Teile. Wolltrikots, alte schwarze Rennschuhe, Karbidlampen und vieles mehr. Alles aus einer längst vergangenen Zeit. Leider auch zu horrenden Preisen, da es immer mehr „Alteisensammler“ gibt und die Ware mit den Jahren knapper wird.
Auf dem Teilemarkt habe ich Michael vom Altonaer BC getroffen und uns für eine gemeinsame Fahrt bei Eroica verabredet. Michael wollte recht früh starten und ich sollte ihn im Laufe der Strecke einholen.
Das Besondere an dieser Radveranstaltung ist, dass man nicht auf Carbon oder Aluminium oder gar mit einem E-Bike fahren darf, sondern nur auf Stahlrädern, die mindestens 25 Jahre alt sind. Auch entspricht die Schalt- und Bremstechnik nicht den neuesten Stand der Technik und ist teilweise bis zu 100 Jahre alt. Man sollte hier mit 26 mm breiten Reifen fahren, wenn man auf den Sand- und Schotterpisten, den Strade Bianche, „überleben“ will.
Die Vintagefahrer fahren nicht besonders schnell, aber sie sehen gut auf ihren Oldtimern in ihren wollenden alten Radsachen aus. Den Startern der Eroica (Die Heldenhafte) geht es nicht um schnelle Zeiten, sondern um einen entschleunigten und eleganten und dabei sportlichen Radfahrerauftritt auf und neben der Strecke. Jedoch handelt es sich hierbei nicht um eine entspannte Sonntagsausfahrt sondern um eine Tour mit hohen sportlichen Reiz.
Am Sonntag ging es zum Start nach Gaiole. 03.30 Uhr war aufstehen angesagt. Es regnete und Nebel zog auf. Keine guten Voraussetzungen für eine entspannte und sonnige Tour durch die Toskana. Dann der Start. Aufgeregt, wie vor dem ersten Rennen. Sitzt die Radmütze richtig, ist die Startnummer richtig befestigt, Bremsen eingestellt, Luftdruck in Ordnung, wo ist die Startkarte. Bloß diese nicht verlieren, denn man möchte nach 7 Stunden Fahrt bei 13 Kilometern, ja seine Medaille bekommen. Die hohe Starterzahl von 7.000 Teilnehmern aus über 50 Ländern, verteilt auf fünf verschiedenen Strecken sowie die Radabnahme ergeben etwas Wartezeit bis man dann endlich losfahren kann. Alles hat hier seine entschleunigte italienische Ordnung.
Und dann ging es um 05.38 Uhr bei feuchtem Wetter in tiefster Dunkelheit auf die 135 Kilometertour durch die Toskana. Spätestens am ersten Anstieg im Scheine von diversen Öllampen zum Castello Brolio wird allen Teilnehmern klar, warum die Veranstaltung Eroica heißt. Wer es ohne abzusteigen bis nach oben schafft, darf sich hier schon sehr früh als Held der Straße fühlen. Auch die anschließende Abfahrt auf der Schotterpiste ist nicht zum Nachdenken geeignet, da die Schwerkraft trotz dosierter Bremsversuche einen nach unten drückt. Aber es folgen danach noch weitere heldenhafte Schotteranstiege und riskante Abfahrten. Die Dunkelheit und der leichte Regen verzogen sich und es begann eine schöne Fahrt durch das Chiantigebiet Richtung Siena. Die Regenjacke in die umgehängte Musette schnell eingepackt und mit Schwung zur ersten Kontrollstelle. Hier wurde die ganze Vielfalt der toskanischen Küche incl. Chianti angeboten.
Jetzt waren es noch 85 Kilometer und es sollte flacher werden. Auf den ersten Kilometern war es auch so, aber dann kam die Crete, eine baumlose traumhafte Landschaft mit nicht endenden Hügeln. Man vergisst jetzt hier die gewollte Entschleunigung und wandert in den Bereich der sportlichen Eleganz mit wachsenden Ehrgeiz beim ständigen bergauf und bergab ab. Auf diesen fast schon brutalen Strecken mit Steigungen bis zu 20 % fangen einige auch schon an das Rad zuschieben. Gehört auch dazu und ist keine Schmach.
Auch bekam ich durch den Matsch/Staub auf den Schotterwegen jetzt die richtige Patina. Von oben bis unten leicht betongrau eingefärbt und alles schmeckte nach Sand. Aber jetzt machte es erst richtig Spaß über die Weinberge und Hügel auf den kurvenreichen Straßen und Schotterwegen zu fahren. Das Tretlager fängt an zu krächzen, die Kette ächzt und schreit nach Öl, die Schaltung hakelt und die Bremskraft der alten Bremsen lässt nach. Die Bremsbelege wurden immer dünner und bei einigen Mitstreitern platzten die Schlauchreifen auf Grund der aufgeheizten Felgen. Bei einem Anstieg zerbrach bei mir der linke Metallbügel der Riemenpedale. Jetzt wäre ein Schweißgerät ganz gut gewesen um diesen kleinen Schaden zu beheben. Nun konnten die Anstiege nur noch mit rechts hochgezogen und mit links die Balance gehalten werden. Im Unterbewusstsein verspüre ich noch immer den Muskelkater in der rechten Wade,
Am zweiten Kontrollpunkt gab es wieder allerlei toskanische Leckereien und einen gut schmeckenden Eintopf zu essen. Jetzt waren noch gut 40 Kilometer bis ins Ziel zu fahren.
Aus der Ferne konnte man das Castell Brolio schon lange sehen, wo am Morgen in der Dunkelheit der erste Anstieg war. Jetzt kamen Selbstzweifel auf, warum man sich dieses Martyrium überhaupt antut. Die Kilometer bis zum Castell wollten nicht vergehen und dann noch dieser letzte brutale Anstieg, der einen die restlichen Kräfte heraussog. Oben angekommen ging es dann ohne Selbstzweifel und mit ganz viel Glückshormonen dem Ziel entgegen. In Gaiole, nach 7 Stunden und 12 Minuten Fahrzeit angekommen, jubelten zahlreiche Zuschauer die ankommenden Eroici (Helden) zu. Im Ziel wurde dann die Startkarte kontrolliert und die Medaille umgehängt. Am Rande der Veranstaltung wurde ich noch vom Initiator der Eroica Giancarlo Brocci begrüßt und für die erfolgreiche Fahrt beglückwünscht.
Die Verdrängung der schweren Straßenverhältnisse und das Bewusstsein es wieder geschafft zu haben, lassen die Erlebnisse in einem schönen Licht erscheinen. Aber ohne eine gewissenhafte Vorbereitung in materieller und physischer Sicht auf solch ein Event kann so eine Fahrt leicht zu einem Trauma werden. Am Ende waren es unvergessene 140 Kilometer mit 2.600 Höhenmeter und das alles in Stahl und Wolle.
Für viele Retrofahrer ist diese Kultveranstaltung Olympiade und Weltmeisterschaft zugleich, jedoch ohne den Sinn einer Platzierung oder Sieges, sondern ausschließlich der Inhalt und der Geist einer Reise in die Radsportvergangenheit. Mit dieser Veranstaltung kehrt man zu den Anfängen des Radsports zurück, als er noch ein Synonym für Staub, Schlamm, Mühe und Schweiß war. Das zeigt auch die Anwesenheit ehemaliger Champions wie Felice Gimondi, Erik Zabel und Klaus-Peter Thaler und weiterer Radgrößen vergangener Tage.
Nach all den Strapazen auf der „Heldenrunde“ werde ich auch in 2017, neben anderen Retroveranstaltungen in Europa, wieder an der Eroica teilnehmen. Ach ja, nach langem Suchen auf dem Teileflohmarkt in Gaiole wurden auch die passenden Stahlbügel von Campa für die Riemenpedale gefunden. Original verpackt, jedoch zu einem sehr hohen Preis.
In Deutschland findet in Ludwigslust Mitte September 2017 zum dritten Mal die Velo Classico Germany, statt. Hier kann man bei weitaus weniger Höhenmeter das Flair eines Radkultureventes einmal in der Nähe als Teilnehmer oder Zuschauer erleben. Infos unter
http://www.veloclassico.de
Auf der Rückfahrt nach Deutschland machte ich noch drei Tage Station im MTB-Mekka Riva am Gardasee. Hier traf ich ganz unverhofft Britta und Madmat, die ihren ersten Hochzeitstag hier verlebten.