600er ARA Brevet Weserbergland '15 (Ber.&Bild.)

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dirksen1
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600er ARA Brevet Weserbergland '15 (Ber.&Bild.)

Beitragvon dirksen1 » 28.05.2015, 15:38

„Ich liebe den Geruch von frischer Sitzcreme am Morgen“ (frei nach Colonel Kilgore, 1979).
So ähnlich dürfte es wohl in den Brevet-Stuben dieser Welt heuer geheißen haben, auch ohne Wagners Walkürenritt. ;-)

Vorab: Der Brevet hat mir keinen Spaß gemacht, ich fühlte mich anschließend nicht adrenalin- und endorphin-geschwängert superhappy, sondern war einfach nur froh, dass es vorbei war. Auch am nächsten Tag oder ein paar Tage später war die „Warum“-Frage stärker präsent als die „Geschafft“-Euphorie. Warum das so ist und warum ich diese seltene, vorher irgendwie nie gekannte „Aftermath of Cycling“ erfuhr, versuche ich mal zu Papier, oder besser: zu Bildschirm zu bringen. Nachvollziehen können das eh nur diejenigen, die dabei waren. Und wenn ich mich in einigen Absätzen wiederhole, liegt das daran, dass es eben kein „straightes“ Erlebnis war, sondern eine Aneinanderreihung von „schwer“, „hart“, „Schmerz“, „Kälte“ und „Nass“…alles irgendwie zugleich und doch nacheinander…

600 km, eine Strecke, die man selbst mit dem Auto nicht „mal eben“ fährt, sondern sich drauf vorbereitet. Auf dem Rad? 600 km? Ein Unterfangen für dem Wahnsinn verfallene Menschen wie dem oben zitierten Colonel? Vielleicht…ein bisschen…oder doch nicht?

Ok, fangen wir mit den Vorbereitungen an.

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Setup für 600 km, nicht mehr viel von einem „Rennrad“ übrig.

Radeln, einfach radeln, das war’s schon. Mal länger, mal kürzer, mal höher, mal flacher, aber stetig und beständig und immer wieder mit der nötigen Selbstmotivation angefeuert. Mehr braucht es nicht, um einen „Brevet“ zu fahren. Motivation, ja, das scheint mir der wesentliche Faktor zu sein. Man muss es wollen, zwingen kann einen niemand dazu. Ich wollte es seit nunmehr drei Jahren und habe meinen (radsportaffinen) Körper über die Zeit entsprechend umgebaut. Lang, länger, ganz lang.
Ein Jahr mal 200 und 300, im nächsten Jahr dann die 400 dranhängen und jetzt im zweiten Jahr zum zweiten Mal noch einen 600er obendrauf. Letztes Jahr erstaunlich gut genommen, ging es heuer ganz anders zur Sache.

Abends sollte gestartet werden, Vorbereitung auf PBP, wo es auch so sein wird. Ein anspruchsvolles Profil sollte die Strecke haben, damit PBP nicht mehr so arg schockt. Also gehen wir es an…wir vier vom Brevet-Bataillon.
Frau Eklund, TomMas, Tino Vöckler und meine Wenigkeit, vor weniger als 18 Stunden als „Leittier“ bezeichnet. Na ja. Nicht wirklich.

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Radwelt in Ordnung

Als wir am Startort in Großenwieden eintreffen, wuselt da schon allerlei Brevet-Volk rum. Manche schlafen im Auto, manche kippen Kaffee wie Wasser, andere laufen aufgeregt hin und her und einige sind sogar vollkommen ruhig und gelassen und machen Scherze. 600 km, 8.000 Hm wurden angekündigt. „Wenn es kurz nach dem Start hügelig und steil wird, lasst euch davon nicht beeindrucken, das bleibt nämlich so!“ postulierte Uwe noch in die pedalscharrende Menge und dann ging es in den Prolog. Ein paar km zum Warmwerden an einem kühlen Freitagabend im Mai…

Auf nem Feldweg nahe der Weser dann offizieller Start, alle Mann in die Pedale, präsentiert das Randonneurchen und los. Neunzehnhundert Ortszeit.

Ruhig und in geordneter Viererformation pedalierten wir Richtung Süden, schnell wurde es kalt und dann ein bisschen kälter. Korbach sollte das erste Verpflegungsziel sein und bis dahin rollten wir mit Rückenwind von schräg hinten gut und flott auf welligen Wegen. Nach der Stärkung dann ab in den Osten, erste unheimliche Begegnungen mit einem nicht enden wollenden schwarzen Gewässer zu unserer Rechten ließen uns erkennen, dass nun die Dunkelheit endgültig über das Licht siegen würde. Der Edersee, so der Name der Schwärze, auf deren ölglänzenden Decke sich die Lichter der Zivilisation wiederspiegelten. Ein faszinierender Anblick, gab es doch in dieser unserer Nacht keinen Mondschein am klaren Himmel. Ruhe. Stille. Geräusche nur von den sirrenden Freiläufen und manchmal ein vorbeifahrendes Auto. Gesprochen wurde kaum, das Licht des Garmin-Displays ließ Gesichter leuchten. Weiterfahren, immer weiter Richtung Osten, der aufgehenden Sonne entgegen.

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Das Licht unseres Fixsterns nahm der Finsternis den Staffelstab ab und saugte dem Boden die Feuchtigkeit aus. Aufsteigende Schwaden tauchten uns in eine Szenerie, die einem Edgar Wallace Film entsprungen sein musste. Frühstück in Melsungen, der Stadt der geschlossenen Tankstellen. Versuche, die Kälte aus dem Körper zu treiben…wenig erfolgreich.
Weiter ging unsere ungewisse Reise über den Hohen Meißner, ein unangenehm steiler Anstieg, der sich mit Macht gegen uns stemmte und sogar eine asphaltierte Oberfläche verweigerte, weil dort die Straße aktuell neu gemacht wird. Auf abgefrästem Schotter rumpelten wir hoch, langsam, stetig…wie wir es geübt haben die vergangenen Jahre…Stetigkeit, Beharrlichkeit, Durchhalten…

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Tiefer und tiefer ging es nun weiter und weiter, die Kräfte wurden weniger, die Motivation auch. Blöd, weil viel zu früh. Noch nicht mal 400 km auf der Uhr. Unser Team wurde inhomogen. Lagerkoller nennt man das vielleicht, wenn nicht jeder Spruch sein Ziel erreicht. Also jeder auf seine Weise bis zum nächsten Etappenziel in Nordhausen. Singend, brummelnd, vor sich hin schweigend, aber dennoch stetig, beharrlich, weiterfahren. Kilometer werden zu Zeit, die Distanz verliert sich aus dem Fokus. Ein Trip auf zwei Rädern, der sich noch steigern sollte. Für jeden von uns…unterschiedlich.

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Nordhausen. Als Meilenstein im Vorfeld von unserer Gruppe als mögliches Zwischenlager mit Bett und Dusche anvisiert, entpuppte sich als Falle. Die Tageszeit viel zu früh, die Sonne gab wenigstens ein bisschen ihrer Wärme an uns ab, wir wurden wacher. Diskussionen, Uneinigkeit, rasten und rosten oder weiterfahren und Kilometer machen. In den Harz sollte es gehen, lange bergan Richtung Benneckenstein, bekannter Anstieg, ausgeblendet in den Vorbetrachtungen der Mission.
Mein Kopf sagte plötzlich „Nein, nicht weiterfahren, das 40-Stunden Zeitfenster wird zu knapp, Pause machen, die Gruppe zerfällt…“ Wirre Gedanken, ungewöhnlich wenig Motivation, ich gab den Staffelstab ab. Ich wollte sitzen, essen, ruhen…Zeitfenster, schaffen wir das überhaupt noch? Egal, kein Ziel vor Augen trieb es die zerfallende Gruppe in einen Imbiss, TomMas fand neue Gefährten, radelte weiter. Gute Wahl von ihm.

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Nach Döner, Brause, Pommes, Brause brachen wir 3 also auf. In den Nachmittag hinein, bergan mit müden Beinen und einem sich sperrenden Kopf. Nichts und niemand in mir sagte „du schaffst das“, nur meine Mitfahrer, die waren sich sicher. Unendlichen Dank dafür! Was macht man in so einer Situation? Aufgeben? Wenn man diesem Wort erstmal seinen Platz in den Gedanken zugestanden hat?

Der Harz. Zum Glück bekannt, nach unsagbar langen und schweren knapp 50km rollten wir in Wernigerode ins Café. Riesenwindbeutel, Kaffee, Klamottenwechsel mit zusätzlicher Schicht gegen den einsetzenden Regen. Aufgabegedanken? Ein bisschen größer geworden. 420km waren geschafft, Regen, fallende Temperaturen, der nahe Abend, beginnende Dunkelheit…dunkel…auch im Kopf, in den Gedanken. Weiter, auf den Brocken, von Wernigerode 28km ständig bergan, kleines Zwischenrollen ohne Erholung, Dunkelheit, Regen, die Kälte fraß sich durch die Klamotten, jeder Gangwechsel tat weh, irgendwann einfach den kleinsten Gang auflegen. Oben auf dem Berg soll es einen Turm mit Vorraum geben. Trocken. Dort oben angekommen bot die Natur eine fast surreale Szenerie. Sichtweite unter 10 Metern, Wind haute uns fast vom Rad, vom Turm keine Spur zu sehen. Orientierungslosigkeit und Kälte verbargen den Blick auf das ersehnte Zwischenziel. Dieser Turm, der muss doch da irgendwo sein. Rufe nach den Mitfahrern „wo seid ihr!“ verhallten im windumtosten Gipfel…der Vorraum des Turms. Dort. Schemenhaft reckt sich ein schwarzer Koloss in den Himmel. Rein da. Über die nassen Kleider weitere Schichten aus dem Rucksack stülpen. „wie sollen wir hier wieder heile runterkommen?“ zuckte es durch meine Gedanken, als ich ohne spürbare Bremswirkung und ohne Gefühl in den Fingern an den Bremshebeln zog. Krähenrufe aus dem Dickicht…

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Wetterwarte Brocken

Moment!!! Was tust du?“ dachte ich ohne ersichtlichen Anlass plötzlich. Ich wachte auf. „Greift im Unterlenker an die STI-Hebel, da habt ihr mehr Kraft auf den Bremsbelägen!“ rief ich meinen Mitstreitern noch zu und mit angezogenen Gummiklötzchen auf feuchtem Aluminium ging es wieder runter. Downhill. Langsam aus der Nebelsuppe in den „nur-Regen“. Noch nie habe ich so gefroren auf dem Rad, noch nie habe ich so viel Bremsgummi auf 7 km verbraucht. Gemeinsam (!) waren wir heile wieder unten in Schierke, weiter nach Elend. Ein Ortsname, der Programm ist. Der Regen wurde nicht weniger.

Wie soll man Körperwärme aufbauen, wenn die Kraft fehlt, die Durchblutung entsprechend anzukurbeln. Verzweiflung. So kann das doch jetzt nicht noch 150 km weitergehen. Raus aus dem Harz.
„Jeanny, komm, come on
Steh auf - bitte, du wirst ganz nass
Schon spät, komm - wir müssen weg hier,
Raus aus dem Wald, verstehst du nicht?“…

Unser auf zwei Fahrer dezimiertes Team (Frau Eklund hatte die für den Moment richtige Entscheidung getroffen und war von Königskrug über Torfhaus runter nach Bad Harzburg gerollt und dort in einem rettenden Taxi gen Heimat gefahren) erreichte Clausthal, erneut Döner, Brause, Kaffee…weiterfahren…

Der Harz lag nun hinter uns, mein Fixpunkt für die letzte Etappe dieser Tour. Von hier aus flacher, in den erwachenden Tag hinein radeln. Die Greener Burg tat noch mal weh, der Garmin-Absturz kostete Zeit und Nerven. Danke Tino, dass du dort oben trotz Regen und Kälte gewartet hast.

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Was dann kam? Die Müdigkeit gewann den Kampf gegen meinen Durchhaltewillen, der ab du zu noch aufflammte. Auf dem folgenden endlos langen Zweiprozenter bis Eschershausen fielen mir pedalierend die Augen zu, nur ein Zwinkern, doch das war nicht richtig. Nicht auf dem Rad. Nicht an einer Bundesstraße. Nicht richtig. Zu dem Zwinkern gesellten sich Effekte wie Tiere auf der Fahrbahn oder schwarz-weiße Begrenzungspfosten, die ich als Radfahrer mit gelben Warnwesten halluzinierte. Ja, richtig. Einem LSD-Trip gleich halluzinierte ich. Nicht nur im Augenwinkel, sondern sich steigernd auch auf der Fahrbahn tauchten Dinge auf, die da nicht waren. Oder doch? Genau dies zu unterscheiden fühlte ich nicht mehr. STOPP!!!! Anhalten!!!! Kein Marathon dieser Welt ist es wert, kein Straßenkilometer dankt es mir. STOPP!!!!

Die Rettung aus dieser Situation? Mist, ich wollte diesen „Brevet-Spirit“, diese von mir oft als Spinnerei und übertriebenem Heldentum abgewerteten Erfahrung nicht machen, aber als eine Bank auftauchte, die mit ihrem erleuchteten Vorraum funkelte, ließ ich es geschehen. „Tino, ich kann nicht weiterfahren. Die letzten 60 km schaffe ich so nicht. Ich muss, ich will liegen und schlafen“ sagte ich zu meinem Begleiter, der dies verstand und allein weiterfuhr. Alles richtig. Also Rad an den Fuß des Geldautomaten gekettet, die äußeren 2 Schichten der kalt-nassen Kleidung auf die Heizkörper verteilt, in die Aludecke eingewickelt, den Timer am Smartphone auf 50 Minuten gestellt, nach einer gefühlten Zehntelsekunde schlief ich ein.

Als der Wecker seinen steril-elektronischen Ton erklingen ließ, schnellte ich hoch. Bloß nicht liegenbleiben, das Zeitfenster geht zu, unbarmherzig. Und ich hatte das in den vergangenen Wochen/Monaten geübt. Immer mal ne halbe Stunde oder max. eine Stunde schlafen und dann den „zweiten Tag“ angehen. Habe ich mir abgeschaut, dankeschön dafür. ;-) Also frische Creme auftragen, die noch trockene Hose aus dem Rucksack pulen, draußen war es hell, trocken, die übrigen Schichten auf Körper und Rucksack verteilen, trockene und heizungsgewärmte Socken (eine Offenbarung) antüdeln und ab auf die Straße.

Es lief wieder, ich konnte Druck auf Pedale bringen, konnte „richtig“ radeln, ohne Tiere und gelb-weiße Männchen. Schluss-Etappe, 55 km, noch 4 Stunden Zeit. Sollte klappen.

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Hat es auch. Nach ewigen 2 Stunden kam ich in Großenwieden an. Nie waren 50 km so lang, so kalt, so schwer…ich war im Ziel. Danke Welt!

Uwes Mutter versüßte den frühen Sonntagmorgen mit einem fantastischen Nudel-Gulasch-Topf, Henning hielt noch kurz Smalltalk mit mir über seine Erlebnisse der letzten 30 Stunden, nach 2 Kaffee und nem halben Liter Cola stieg ich ins Auto, McDonalds spendierte noch McToasties, 2 Milchshakes und nen heißen Kakao, She Wants Revenge begleiteten mich sehr laut aus dem USB-Stick auf der Heimfahrt. Kaffee, Kakao, zwei Scheiben Nutellabrot, schlafen…nur 4 Stunden.

Quali durch, Paris kann kommen. Ob ich nach Paris komme? Es gab tagelange Zweifel…

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Hier gibt es weitere, tolle Bilder von TomMas:

https://picasaweb.google.com/1100109047 ... directlink
Zuletzt geändert von dirksen1 am 15.09.2015, 08:07, insgesamt 2-mal geändert.
ES LIEGT NIE AM RAD!
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Johanna
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Beitragvon Johanna » 28.05.2015, 16:26

Klasse Bericht. Danke für die Einblicke, genauso stelle ich mir das vor ;)

Geschafft = geschafft. Glückwunsch!
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Beitragvon Heimfelder Dirk » 28.05.2015, 17:07

:Hutab: und ganz großen :Respekt:

Glückwunsch zur Quali für PBP ;-)
:gruss:
dirk
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Dreckschleuder
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Beitragvon Dreckschleuder » 28.05.2015, 18:04

Hi Dirksen1,

ich wußte, dass die neue WB600-Strecke eine echte Herausforderung ist. Aber was ich aus Deinem Bericht entnommen habe, ist ein echter Hammer.

Glückwunsch, daß Du das tatsächlich bis zum Ende durchgezogen hast und doch noch angekommen bist!

Vielleicht tröstet es ja zu erfahren, dass PBP gegen diese Schwierigkeiten ein echter Kindergeburtstag werden wird...
Freude am Radfahren!
Knud
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Beitragvon Knud » 28.05.2015, 22:34

Glückwunsch. 8)
Auch für den Unbeteiligten wird klar, warum PBP eine stufenweise Qualifikation fordert.
Da muss man wirklich wollen.

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